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Textauszug: LIEBESPAARE
Wir ersaufen. Das ist das einzige, was Fred Saltz zu diesem Regen noch einfällt, der einen halben Meter vor seinen Augen auf die Windschutzscheibe prasselt, einem Regen, der nun schon seit zwei Wochen nahezu ohne Unterbrechung über der Stadt niedergeht, nur zwei oder dreimal hat sich in dieser Zeit die Sonne blicken lassen, so als werde die Tür zu irgendeiner leuchtenden Party über den Wolken für einen Moment aufgestoßen, um einem sofort wieder vor der Nase zugeschlagen zu werden. Hier unten schaufeln Autoreifen in dumpfem Trott Wasser auf Gehsteige, die Köpfe der Fußgänger sind eingeklemmt zwischen Schultern und Schirmen, und die Baumkronen hängen wie schwarze triefende Wolken über der Straße. Es ist soweit: All das kann nur eine Folge dieses Treibhauseffekts sein, vor dem irgendwelche Wissenschaftler die Menschheit nun schon seit Jahren warnen, nachdem sie ihre Computer jahrelang mit all dem gefüttert haben, was diesem geschundenen Planeten tagein tagaus zugemutet wird, und wer kann sich wundern, daß diese unbestechlichen Elektronengehirne die globalen Daten - wissenschaftlich verwandelt - wieder als das ausspucken, was sie sind: Müll.
Fred schaltet einen Gang tiefer, was ihm einen kurzen befriedigenden Moment der Konzentration abverlangt, denn der Wagen, den er fährt, ein Citroën DS 21, Baujahr 1971, hat eine altertümliche Lenkradschaltung. Die schmucke Karosse ist ein langgehegter Traum von ihm, ein bordeauxrotes Autojuwel, das von vorne besehen so gewieft dreinblickt, wie kein Modell, das vor oder nach ihm jemals gebaut worden ist. Vor ein paar Monaten hat er sich diesen Traum erfüllt. Alles geht den Bach runter, es bleibt einem nichts mehr übrig, als für sich selbst das Optimum herauszuholen. Und die Anzeichen, daß demnächst alles zu Ende ist, mehren sich: Im Spiegel war vor kurzem zu lesen, daß sich die Oberflächentemperatur des Meeres um 0,4 Grad erhöht hat, die Polkappen schmelzen rapide, und wie es aussieht, ist es nur noch eine Frage der Zeit, bis sich die Ostsee bis zum Stadtrand von Berlin ausgedehnt haben wird. Aber nicht nur das Wetter spielt verrückt, die Dinge geraten auf breiter Front aus dem Lot: Die Börsenkurse stürzen ab, Garri Kasparow hat in neunzehn Zügen gegen Deep Blue verloren, und seit Monaten rennen die Leute in Titanic, um den größten Untergang aller Zeiten hautnah mitzuerleben, als gelte längst die Parole: Was soll's, demnächst ist sowieso Schluß. Noch anderthalb Jahre, dann ist das Jahrtausend vorbei.
Die Straßenränder sind zu Bächlein angeschwollen, die an die Bordsteine schwappen, und die dort geparkten Autos glänzen im Scheinwerferlicht, als wären sie allesamt nagelneu. Lauter kleine Titanics. Aber ganz egal, wie lange der Untergang sich hinzieht, denkt Fred, er wird in jedem Fall bis zum letzten Moment obenauf schwimmen, denn er liefert den Stoff, den diese untergehende Menschheit braucht, um nicht ständig in den dunklen Strudel ihres eigenen Schicksals starren zu müssen. Als Leiter des Storyliner-Teams von Wo die Liebe hinfällt, einer auf dem ehemaligen UfA-Gelände in Potsdam-Babelsberg produzierten Fernsehserie, die montags bis freitags von achtzehn Uhr dreißig bis achtzehn Uhr fünfundfünfzig ausgestrahlt wird und dabei im Schnitt eine Quote von vier Millionen Zuschauern erzielt, kann er sich auf den simplen Mechanismus verlassen, daß es ihm um so besser geht, je schlechter es mit den Dingen auf diesem armen Planeten bestellt ist. Die Menschen wollen unterhalten sein, während das Schiff absäuft. Der originellste Storyeinfall bei diesem Titanic-Film war ja jene Musikkapelle, die noch einen Walzer nach dem anderen gespielt hat, als schon die ersten Wellen an den Schuhspitzen der Musiker leckten. Danse macabre. Den mochte Fred schon immer gern.
Was den heutigen Abend angeht, ist ihm allerdings doch ein wenig mulmig zumute. Eigentlich hatte er sich vorgestellt, nur eine weitere Perle aus dem uferlosen Angebot zu picken, das dieses verlotterte Fin de Siècle ihm und all seinen gierigen genußsüchtigen und verlorenen Zeitgenossen bietet, aber allmählich dämmert ihm, daß dieser Leckerbissen schwerer verdaulich sein könnte als ein alter legendärer französischer Wagen; doch daran ist jetzt nichts mehr zu ändern. Und bei genauerem Hinsehen ist es ja immerhin das Gegenteil von einem Eisberg, auf das er zusteuert, den Regen wie einen großen glitzernden Vorhang zerteilend.
Auf dem Beifahrersitz neben ihm sitzt Nora, seine Frau. Auch sie ist ungewöhnlich wortkarg, seit sie vor einer Viertelstunde mit hastiger Entschiedenheit die Wagentür zugezogen hat. Sie ist dreiunddreißig, und ihre glatten dunklen streichholzlangen Haare umranden ihr schmales Gesicht wie ein eng anliegendes Tuch, ein amselfarbenes Gefieder, das ihr mal eine unbekümmerte Zwanziger-Jahre-Note verleiht, mal aber auch die protestantische Strenge ihres Elternhauses, obwohl sie nicht an Gott glaubt. Fred ist katholisch aufgewachsen und glaubt auch nicht an Gott. Die Unterschiede zwischen den Religionen verschwinden. Mit ihren leichten Schultern und ihren langen, dünnen Beinen war Nora äußerst begehrt zu der Zeit, als Fred sie in einer der Studiohallen auf dem UfA-Gelände an einem Set-Buffet kennenlernte. Sie stand dort mit ihrem Teller unschlüssig vor den belegten Käse- und Lachsbrötchen herum, und er gab ihr den Tip, es doch besser mit der etwas versteckt angerichteten Zucchini-Quiche zu versuchen, die, wie er ihr versicherte, durchaus passabel sei. Sie assistierte damals bei einem dieser locker-schmierigen Nachmittags-Talker, bis sie den Job hinschmiß und an die Universität zurückkehrte, um über Döblin zu promovieren. Schon damals haftete ihrem Wesen und ihrer Intelligenz etwas grazil Trotziges an, dem Fred nicht widerstehen konnte und das in ihrem schmalen spitzen Gesicht einen hübschen Ausdruck gefunden hat. Jetzt allerdings wirkt sie nachdenklich.
»Was ist eigentlich, wenn wir jemanden treffen, den wir kennen?« überlegt sie besorgt und stellt das Radio leiser, als könne man auf der anderen Seite des Äthers möglicherweise mithören, was sie gerade sagt.
»Nun ja ...« sagt Fred nach einer Weile. Das Wasser scheint jetzt zentimeterhoch über den Asphalt zu fließen, und er hat auf einmal das unangenehme Gefühl, keine präzise Gewalt mehr über sein Schmuckstück zu haben, als bediene er nicht ein Steuer, sondern etwas wie ein Ruder. Die Häuserfronten hinter der Frontscheibe zerspringen in Millionen von Splitter, die Wischerblätter fegen die Scherben von rechts nach links, von links nach rechts. Das Radio summt einfache Melodien vor sich hin, und die Lüftung pustet kühle Feuchtigkeit gegen Freds Schuhe. Es riecht nach Ozon und süßen Parfums. Nora, die sonst das Leichte und Dezente bevorzugt, hat sich heute für schwere, sackende Düfte entschieden, sich gewissermaßen getarnt und mit undurchsichtigen Gerüchen bis zur Unkenntlichkeit verschleiert. Der Grund dafür ist derselbe, der auch Fred mit einer gewissen Bangigkeit erfüllt: Es ist möglich, daß sie heute Abend nicht nur von interessierten Blicken gemustert werden, sondern darüber hinaus von schnüffelnden lüsternen Nasen. Denn das ist es, wo sie hinfahren: zu einer Pärchenparty, die sie vor kurzem in einer Stadtmagazin-Kleinanzeige unter Diverses in der Rubrik Lonely Hearts entdeckt haben.
»Nun, ja ...« setzt Fred noch einmal zu einer Antwort auf Noras Frage an, was wäre, wenn sie dort einen Bekannten treffen würden, und erklärt: »Alles in allem ist es doch eine faire Angelegenheit. Was die anderen von dir erfahren, erfährst du von ihnen. Dasselbe Geheimnis, das man enthüllt, bekommt man auch mitgeteilt. Anders würde es nicht funktionieren. Alle bewegen sich im Schutz dieser Symmetrie. Eigentlich mache ich mir keine Gedanken.«
Aber das stimmt nicht. Was, wenn er dort - wo auch immer das sein mag, in einem dunklen Keller oder einem schummrigen Loft - jemandem begegnet, den er kennt, seinem Zahnarzt, seinem Friseur oder einem seiner Arbeitskollegen? Thilo Flatten zum Beispiel oder Andrea Paculi. Storyliner sind Spürhunde, angesetzt darauf, zu wissen, was die Menschen treiben. In der Party-Anzeige, die kein bißchen anders ausgesehen hat als all die anderen kleinen Suche-Biete-Dreizeiler darüber oder darunter, hieß es: Tolerante Paare treffen sich in gehobener Atmosphäre ... Das Problem dabei ist: Fred ist nicht tolerant, oder genauer gesagt, er kann sich nicht vorstellen, es zu sein, aber wer setzt sich schon mit Fragen auseinander, auf die es keine theoretischen Antworten gibt? Die Konzentration, die ihm das Fahren abverlangt, läßt einen leichten Kopfschmerz hinter seinem rechten Ohr aufwärts kriechen.
»Sollen wir es lassen?« fragt er.
Nora schüttelt den Kopf. »Jetzt sind wir doch fast da. Und du sagst es ja selbst: Was soll schon passieren? Wenn es ekelhaft ist, gehen wir einfach wieder.«
Auf den Gedanken, es könne ekelhaft sein, ist Fred noch gar nicht gekommen - wie unterschiedlich Nora und er gewisse Dinge doch beurteilen. Nicht verwunderlich, daß sie es in Babelsberg nicht ausgehalten hat mit ihrem wissenschaftlichen Ethos. Fred hat nie ein Studium abgeschlossen, und die theoretischen Aspekte dieser Welt waren ihm von jeher gleichgültig, mit einer Ausnahme: der Evolutionslehre. Die Behauptung, daß alles vor ein paar Millionen oder Milliarden Jahren mit einem Schleimklumpen begonnen hat, fasziniert ihn, seit er vor ein paar Monaten darauf gestoßen ist, eher zufällig, weil er sich für Wo die Liebe hinfällt mit den theoretischen Grundlagen genetischer Vaterschaftstests hat beschäftigen müssen und Thilo Flatten in diesem Zusammenhang behauptet hat, es sei bis heute ein Geheimnis, was den Menschen zum Menschen macht, da unsere Spezies genetisch zu 94 Prozent dem Pavian und zu 98 Prozent dem Schimpansen gleiche, dessen nächste Verwandte mithin nicht etwa die Gorillas seien, sondern wir. Seitdem würde Fred gerne einmal Darwins Ursprung der Arten im Original lesen, doch dazu fehlt ihm die Zeit, und so stapeln sich auf seinem Nachttisch eine Reihe von kürzeren populärwissenschaftlichen Darstellungen all dieser genetischen Theorien, denen zufolge der Mensch also nur ein ausgeklügelter Affe ist. - Es ist erstaunlich: Während Nora mit ihrer literarischen Bettlektüre gewissermaßen das vorläufige Ende der biologischen oder kulturellen Entwicklung beackert, widmet sich Fred vor dem Einschlafen ganz dem Anfang dieser gewaltigen Skala, dem Neandertaler oder irgendwelchen urtümlichen Amphibien; und doch sitzen sie jetzt im selben Wagen und fahren demselben ungewissen Abend entgegen durch denselben Regen, der sich zu einem unergründlichen schwarzen Vorhang verdichtet hat, zu schwerem, feuchtem Stoff, den die Scheinwerfer Bahn um Bahn zur Seite schieben. Das ist das Schöne an dieser Welt: Sie läßt alles zu, wenn es nur hinreichend unwahrscheinlich ist.
Fred steuert den Citroën nach links in eine ziemlich unauffällige Seitenstraße, deren Namen ein gewisser Bernd ihm vor wenigen Tagen telefonisch durchgegeben hat. Hinter der Fünf-Etagen-Normalität dieser verregneten Fassaden zu beiden Seiten soll also die geheimnisvolle Party stattfinden. Erstaunlich. Wirklich hier? Links, in einem kleinen, noch geöffneten und von schwachen Neonröhren grau erleuchteten Getränke- und Zeitschriftenladen trinken ein paar heruntergekommene Gestalten ihr Bier. Um diese Zeit ist in den meisten Fenstern der Häuser Licht, die Menschen essen oder sehen fern, Wo die Liebe hinfällt läuft heute ja nicht, schade eigentlich, auf jeden Fall macht hier alles den Eindruck eines ganz und gar durchschnittlichen Samstagabends, so daß einem die Vorstellung, sich in wenigen Minuten auf einer Party wiederzufinden, deren alleiniger Zweck es ist, kreuz und quer miteinander zu vögeln, irgendwie schwerfällt angesichts der Banalität, daß man sich hier, wie immer und überall in Berlin, erst einmal einen Parkplatz suchen muß und sich, wenn man glücklich einen gefunden hat, beim Rangieren darauf konzentriert, weder vorne noch hinten eine fremde Stoßstange zu berühren. Als Fred den Motor abstellt, bleibt als Geräusch einzig das Flüstern des Regens zurück, der etwas schwächer geworden ist und irgendeine sanft unverständliche Botschaft auf das Wagendach tuschelt. Da wären sie also.
Nora, die wegen des Regens ihre Pumps nicht schon zu Hause angezogen und diese in der offensichtlichen Annahme, daß Frauen bei Pärchenparties Pumps tragen, in einem Leinensäckchen verstaut hat, angelt sich diesen unauffälligen Schuhbeutel vom Rücksitz.
»Wir gehen also?« fragt Fred.
»Wir gehen«, nickt sie schnell. Zu schnell. Fred meint in ihrem Blick etwas zu erkennen, das mehr ist als bloße Neugier oder die trotzige Entschlossenheit, so kurz vor dem Ziel nicht aufzugeben: einen Anflug von Lüsternheit. Bei der Idee, hierher zu kommen, hat er naturgemäß immer nur an die zu erwartenden Frauen gedacht, und an die Männer keinen Gedanken verschwendet. Nun erwägt er erstmals die Möglichkeit, bei Nora könnte es umgekehrt gewesen sein. Er beobachtet sie, wie sie die Wagentür mit einer kurzen alltäglichen Bewegung schließt und mit schnellen Schritten über die regennasse Fahrbahn springt, so daß es aussieht, als könnte sie es kaum erwarten, endlich dort zu sein, wo auch immer. Ihre schmale, dunkle Gestalt fließt willig in die große unbeleuchtete Fassade, verwandelt sich in einen Schatten unter vielen, wird eins mit dem Regen, und dann steht sie dort, im Hauseingang, eingefaßt von reichhaltigem Stuck, aus dem die Gesichter zernarbter Putten lugen. So sind die Naturgesetze, alles fällt vom Himmel auf die Erde: Regen, Engel. Auf einmal erscheint ihm Nora geheimnisvoll und statuenhaft begehrenswert; eine Unbekannte - aber als er sie erreicht, ist sie doch wieder seine Frau, die, neben der er Morgen für Morgen erwacht. Nun denn. Das Klingelschild glimmt schwach weißlich, sie müssen ins oberste Stockwerk. Nora schlüpft in ihre Pumps, und als sie sich aufrichtet, ist sie größer, sind ihre Augen nah. Auf ihrem dunklen Braun, das er so gut kennt, spiegelt sich der Regen. Nora verstaut ihre Straßenschuhe in dem mitgebrachten Leinensäckchen und zieht die Schlinge zu. Sie nickt, er nickt. Also dann ...